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Interview: Heiner Goebbels

Interview: Heiner Goebbels

2012 hat Heiner Goebbels für drei Jahre die Leitung der Ruhrtriennale übernommen. Am 20. September 2014 verabschiedet er sich mit seinem großen und für Duisburg neu inszenierten Bühnenwerk Surrogate Cities. Wir haben Heiner Goebbels aus diesem Anlass befragt.

Herr Goebbels, wo leben Sie am liebsten: In einer Großstadt, an dessen Rand oder ganz auf dem Land? 

Ich liebe zwar über alles den Blick in die Landschaft, bin aber fürs Wohnen auf dem Lande ungeeignet, die komplette Ruhe macht mich schlaflos, und mir fehlen auch die anregungsreichen Konfrontationen, die eine Großstadt bietet.

Surrogate Cities (1994) ist eines der international bekanntesten und erfolgreichsten Bühnenwerke der zeitgenössischen Musik. Es umkreist thematisch die Großstadt. Wie kam es damals zu diesem Stück?

Es ist nicht wirklich ein Bühnenwerk, sondern ein Orchesterzyklus, der aber verschiedentlich auch choreografiert und inszeniert wurde. Ich selbst habe ihn vielfach - aber lediglich mit Licht - als szenisches Konzert auf die Bühne gebracht. Eine Illustration braucht diese Musik allerdings nicht. 

Entstanden ist der Zyklus als Auftrag eines Doppeljubiläums: 700 Jahre Frankfurt, 20 Jahre Junge Deutsche Philharmonie – und das hat mich inspiriert, die Orchesterstruktur selbst als urbane Metapher zu sehen.

Mit Walden (1998) haben Sie einen thematischen Konterpart zu Surrogate Cities komponiert, der auch abendfüllend szenisch realisiert werden kann. Vor diesem Hintergrund: Was ist das typisch Städtische in der Musik von Surrogate Cities?

Der Rhythmus der Großstadt, die schnellen Wechsel, architektonische Verfahren in der Komposition, historische Schichten, die ans Tageslicht kommen, aber auch literarische Anregungen von Franz Kafka, Heiner Müller, Paul Auster und Hugo Hamilton.

Sie beziehen sich in Surrogate Cities auf sehr unterschiedliche Textquellen. In welchem Verhältnis stehen die Texte zur Musik?

Heiner Müllers Text über den Bürgerkrieg zwischen Rom und Alba ist in drei Mezzosopran-Liedern durchkomponiert, andere Texte dagegen - wie zum Beispiel Kafkas Text über den Turmbau zu Babel - hört man gar nicht: Kafkas drastische Fabel taucht aber als kompositorisch wiederkehrendes Motiv in D&C auf, wie auch in den vielen virtuos improvisierten Stimmen von David Moss bei dem Orchesterstück Die Faust im Wappen.

Wie unterscheidet sich dieses Mal die Inszenierung von Surrogate Cities von früheren Aufführungen?

In der Duisburger Kraftzentrale entsteht eine Choreographie der französischen Choreographin Mathilde Monnier, die zurzeit eine große Bewegungsrecherche mit vielen Akteuren aller Altersgruppen des Ruhrgebiets macht: mit Schulkindern, mit den Jugendlichen (zweier Hip Hop-Tanzgruppen), mit Erwachsenen (Mitgliedern einer Kampfsportgruppe) und Senioren, die sich auf Gesellschaftstanz spezialisiert haben. Zusammen mit den Bochumer Symphonikern unter der Leitung von Steven Sloane stehen hier also ca. 250 Akteure des Ruhrgebiets auf der Bühne. 

Es gab von Mathilde Monnier 2008 bereits einen ähnlichen Ansatz  mit den Berliner Philharmonikern unter der musikalischen Leitung von Simon Rattle, aber diese Inszenierung ist hier ganz auf die Region und den starken Raum im Landschaftspark Duisburg Nord zugeschnitten – ein 160 Meter langes Monstrum aus Stahl und Beton.

Sie haben einen sehr eigenen Weg für die Verbindung von Literatur, Musik und Bühneninszenierung gefunden. Braucht es heute überhaupt noch den herkömmlichen Opernbetrieb?

Natürlich: als Museum für das 300 Jahre alte Repertoire. Als Labor für auch strukturell Neues - wenn nicht nur der Klang ausgewechselt wird - eignen sich die Opernhäuser allerdings kaum.

Wie lautet Ihr persönliches Fazit nach drei Jahren Ruhrtriennale? 

Es war eine wunderbare Bestätigung, dass es gelingen kann - und vom Publikum angenommen wird - ein Festival zu machen, das sich komplett dem bekannten Repertoire verweigert und sich auf die Begegnung mit dem Neuen konzentriert. Ohne darauf zu schielen, hatten wir im vergangenen Jahr die beste Auslastung seit Beginn der Ruhrtriennale. 

Es war eine große Chance, auch mit bildenden Künstlern neue Arbeiten zu produzieren, die woanders kaum entstehen können: wie Ryoji Ikedas 100m lange Sound- und Videoinstallation in Duisburg, Michal Rovners Current in Essen oder Gregor Schneider in Bochum. 

Ich selbst konnte drei Ausgrabungen machen mit Musiktheaterwerken, die bisher kaum oder in Europa noch gar nicht aufgeführt worden sind, weil sie mit dem Opernbetrieb schwer kompatibel sind: Europeras 1 & 2 von John Cage, Delusion of the Fury von Harry Partch und De Materie von Louis Andriessen.

In wenigen Wochen übergeben Sie die Leitung der Ruhrtriennale an Johan Simons. Welche Pläne haben Sie für die Zeit danach?

Ich glaube, ich muss mal wieder etwas komponieren, auch wenn es schwer fällt....


Szenische Aufführungen des gesamten Orchesterzyklus Surrogate Cities:
1994 Paris
1996 München
1999 Bochum
2000 Charleston/USA, Nürnberg
2001 Dessau
2002 Freiburg
2003 Berlin, Luzern, Brisbane/Australien
2005 Venedig, Aarhus
2006 Stockholm Groningen
2008 Berlin, Den Haag, Umea
2012 London
2013 Stavanger
2014 Duisburg



Photo: Wonge Bergmann für die Ruhrtriennale